Weihnachten 1945

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bemühte sich in der Rheingemeinde Altrip der kommissarische Bürgermeister Fridolin Braun mit seinem Beirat (Der „Beirat" trat an die Stelle des früheren Gemeinderates; er wurde nicht gewählt, sondern „eingesetzt".) nach Kräften, die Lebensverhältnisse der Bevölkerung einigermaßen erträglich zu gestalten. Dies war angesichts einer demoralisierten und teilweise sogar depressiven Grundstimmung keine leichte Aufgabe, zumal sich zunehmend auch Stimmen mit Rachegelüsten meldeten.

Das Denunziantentum blühte. Nicht wenige Zeitgenossen wollten dem Bürgermeister unbedingt mitteilen, wer sich ihrer Meinung nach im sogenannten „Dritten Reich" besonders forsch im Sinne des nationalsozialistischen Staates gegeben hatte. Umgekehrt sprachen überzeugte Anhänger des untergegangenen Regimes, die mit der Niederlage des Großdeutschen Reiches ihr bisheriges Weltbild verloren hatten, gerne vom „Zusammenbruch" und nicht etwa von der totalen Niederlage.

Die ständigen, vielfach überzogenen und oft nicht nachvollziehbaren Anordnungen der Besatzungsmacht, insbesondere in den ersten Nachkriegsmonaten, wurden zumeist als reine Siegerlaune empfunden. Zudem litt die öffentliche Ordnung, denn immer wieder fielen im Ort bandenmäßig ehemalige Kriegsgefangene und Dienstverpflichtete, insbesondere Polen ein, um sich in Haus und Hof zu „versorgen". Nur höchst selten gelang es der französischen Militärpolizei, die Plünderer zu fassen.

Gerichtsentscheidungen gegen Deutsche wurden in der Gemeinde oft als Siegerjustiz empfunden, weil höchst unterschiedliche Maßstäbe angelegt wurden. So traf es bereits bei der ersten öffentlichen Sitzung des Gerichtes (Das Militärgericht tagte im Amtsgerichtssaal von Ludwigshafen und wurde durch den Obersten Gerichtshof vereidigt. Es setzte sich zusammen aus Angehörigen der franz. Militärregierung, Leunant Abrias, Leutnant Bauer und Leutnant Réau. Die Gerichtssitzung wurde eröffnet vom Militär-Gouverneur in Ludwigshafen, Major Cardon [Stadtanzeiger Lu., Nr. 18 vom 11. August 1945].) der französischen Militärregierung in Ludwigshafen am 4. August 1945 zwei Altriper besonders hart.

Obwohl sie ihre Unschuld beteuerten und es widersprechende Zeugenaussagen gab, wurden ihnen an diesem Tage im Schuldspruch 1.000 Reichsmark und sechs Monate Haft auferlegt, weil sie angeblich mit ihrem Boot Zivilpersonen über den Rhein gesetzt hätten, die nicht im Besitz eines Passes waren. Zum Vergleich: Ein Schriftsteller aus Ludwigshafen, der sich des öfteren durch Soldaten polnischer Staatsangehörigkeit als Engländer ausweisen ließ und gar mit diesen in betrunkenem Zustande ein Kraftfahrzeug der französischen Militärregierung für eine Fahrt nach Mannheim entwenden wollte, erhielt lediglich eine Strafe von zwei Monaten Gefängnis.

Bürgermeister Braun verstand es jedoch immer wieder, die erhitzten Gemüter seiner Gemeinde zu besänftigen. Im Oktober startete er angesichts des bevorstehenden Weihnachtsfestes und des Winters eine Sammelaktion für das von ihm in Altrip ins Leben gerufene „Soziale Hilfswerk", insbesondere für Menschen, die ihr gesamtes Hab und Gut verloren hatten, ausgebombt oder gesundheitlich ruiniert waren oder den einzigen Ernährer in der Familie verloren hatten.

Braun schwebten möglichst viele Mitgliedschaften im Sozialen Hilfswerk vor. Das vereinbarte oder zugesagte Scherflein wollte er wöchentlich oder monatlich abholen lassen. Der Bürgermeister erwartete, dass die früheren Mitglieder der NSDAP und deren Gliederungen mindestens Beiträge in gleicher Höhe zahlten. Die Resonanz war allerdings eher bescheiden und oftmals wurde den Sammlern die Tür vor der Nase zugeschlagen. Doch Braun ließ sich nicht beirren und startete Anfang Dezember 1945 eine große Straßensammlung.

Die Mobilität der Altriper war denkbar ungünstig eingeengt. Niemand durfte sich ohne besondere Erlaubnis weiter als sechs Kilometer vom Ort entfernen und die Fähre, die der Lebensnerv der Altriper zu ihren rechtsrheinischen Arbeitsplätzen war, lag noch versenkt auf dem Grund des Rheinstromes. Nur zu eng bemessenen Zeiten durften die Berufspendler mit speziellen Passierscheinen und unter ständiger alliierter Kontrolle mit einem Behelfsfahrzeug den Rhein queren.

Zu jener Zeit war der Rhein nicht etwa nur eine Trennlinie zwischen der französischen und der amerikanischen Besatzungszone, also unter alliierten Freunden, sondern eine stark bewachte Grenze. Schwarzfahrten über den Rhein, etwa wenn ein Altriper zu seiner Verlobten in Neckarau wollte, wurden streng bestraft. Peinlich genau mussten auch die Sperrzeiten (Ausgehverbot) eingehalten werden. Im Dezember 1945 durfte sich zwischen Mitternacht und 5 Uhr in der Früh niemand auf der Straße aufhalten. Fahrräder durften nur innerhalb des Dorfes benutzt werden.

Stets von Menschenmassen umlagert waren die Bekanntmachungen („Bekanntmachungen": Auszüge aus dem Gemeindearchiv Altrip) des Bürgermeisteramtes an den „Schwarzen Brettern". Dort wurden die oft sofort geltenden Bestimmungen sowie die Zeiten der Ausgabe der Lebensmittelkarten angeschlagen. Da es aber oft nahezu unmöglich war, sich alle Einzelangaben zu merken, wurde immer wieder versucht, in publikumsschwachen Zeiten einesolche Bekanntmachung zu entwenden. Es bedarf wohl keiner besonderen Erwähnung, dass auf ein solches „Vergehen" harte Strafen folgen konnten.

Etliche Gesetzesvorschriften aus der Kriegszeit übernahm auch die Besatzungsmacht und achtete auf genaueste Einhaltung. So wurde gerade im Weihnachtsmonat nochmals auf den geltenden Lohnstopp verwiesen und ebenso auf das Arbeitsplatzwechselverbot. Die Einstellung und Auflösung eines jeden Arbeitsverhältnisses war nur mit Zustimmung des Arbeitsamts möglich. Lebensmittelkarten für Voll- und Teilselbstversorger gab es nur gegen Vorlage der Arbeitskarte und zwar der ganzen Familie. Die Arbeitskarte musste auf der Rückseite vom Arbeitgeber abgestempelt sein und Selbstständige, Landwirte, Freiberufler sowie Arbeitsunfähige mussten sich ihre Arbeitskarte beim Arbeitsamt abstempeln lassen. Gerade zurückgekehrte Kriegsgefangene erhielten eine einmalige Entlassungsbeihilfe von 75 Reichsmark und Lebensmittelkarten, wenn sie den Nachweis über ihre abgelieferte Uniform vorlegten.

Stromabschaltungen waren, wie auch in den Kriegsjahren, an der Tagesordnung. Die Gemeinde und die gewerblichen Großabnehmer erhielten ein ganz bestimmtes Stromkontingent und die Sperrzeiten mussten daher genauestens eingehalten werden. Damit zu Weihnachten und in kalten Wintertagen erst keine „Stromfresser" zum Einsatz kamen, mussten bis 13. Dezember 1945 auf Anordnung der Militärregierung alle elektrischen Raumheizgeräte abgeliefert werden.

Wer glaubte, das Jagdverbot dadurch umgehen zu können, dass er Frettchen zum Kaninchenfang einsetzte, wurde bereits zu Beginn des Weihnachtsmonats per Bekanntmachung eines Besseren belehrt.

Bekanntmachungen am 24. Dezember 1945

Auch mit Fischen zu Weihnachten sah es nicht rosig aus, denn just erst am Heiligen Abend gab es einen Anschlag am Schwarzen Brett, dass ab sofort Altwasserkartenerlaubnisse das Finanzamt Speyer erteile und alle Sportangler, die solche Karten haben wollten, mussten sich unverzüglich und persönlich beim Sportanglervereinsvorsitzenden zwecks Ausfüllen von Fragebogen melden.

Ebenfalls an Heiligabend verkündete der Bürgermeister: „Die französische Militärregierung hat mitgeteilt, dass die vorläufige Auflösung des Roten Kreuzes im Gebiet des Oberregierungspräsidiums Hessen-Pfalz beschlossen sei. Ab 1. Januar 1946 dürfen die Abzeichen des Roten Kreuzes weder von Personen getragen, noch an Häusern und Fahrzeugen angebracht sein. Es wird z. Zt. eine Organisation gebildet, die die Aufgaben des früheren Roten Kreuzes zu übernehmen hat."

Noch am selben Tag musste der Altriper Kolonnenführer, Frisörmeister Albert Wein, seine segensreiche Arbeit einstellen. Ihm war es zu verdanken, dass am 22. Juli, im Rahmen einer großen Haus-zu-Haus-Sammlung, trotz bitterer Not im Ort selbst, große Mengen an Lebensmitteln der Schwester Oberin des Gartenstädter Krankenhauses für die dortigen verwundeten deutschen Kriegsgefangenen (aus den Lagern der Umgebung) übergeben werden konnten.

Und, statt ein paar besinnlicher oder versöhnlicher Worte wurden auch noch an Heiligabend auf Veranlassung der Militärregierung Fragebogen zur „Wohnraumerhebung" ausgegeben. Abgabetermin war bereits am 27. Dezember. Die Fleißarbeit musste also über Weihnachten erfolgen. Und wieder fehlte nicht der Hinweis: „Bei Fristversäumnis folgen empfindliche Strafen!"

In Sachen „Registrieren" war die Besatzungsbehörde sehr eifrig. Schon am 29. April 1945 hatte die alliierte Militärregierung eine Einwohnerzählung angeordnet und just am 9. Mai, als in Karlshorst Deutschland vor den Sowjets nochmals die totale Kapitulation unterschreiben musste, erhielten alle über zehnjährigen Altriper bereits eine „Zeitweilige Registrierungskarte", die sie mit einem Fingerabdruck versehen mussten. (1946 gab es übrigens gar zwei Volkszählungen, eine von den Franzosen angeordnete und eine spätere in allen westlichen Besatzungszonen.)

Doch es gab auch Erfreuliches zu melden: Die Sperrzeit wurde vom 24. auf 25. und vom 25. auf den 26. Dezember aufgehoben, ebenso die vom 31. Dezember auf den 1. Januar. Auf Veranlassung der Militärregierung konnte Bürgermeister Braun am 24. Dezember freudig eine Sonderzuteilung auf die Lebensmittelkarten der 83. Zuteilungsperiode verkünden. So erhielten Versorgungsberechtigte über 17 Jahre 1/2 Liter Wein, Kinder von 3 bis 6 Jahren 250 gr Marmelade, Jugendliche von 6 bis 17 Jahren 500 gr Obstkonserven, Ausländer, werdende und stillende Mütter 1 kg Gemüsekonserven. Außerdem erhielten Vollselbstversorger über 10 Jahre 100 Gramm Zucker. Allerdings fehlte nicht der Hinweis, dass die Militärregierung ein Anhalten der „Ablieferungsfreudigkeit" (der Erzeuger) erwarte und darin in ihrem Vertrauen nicht enttäuscht werde.

Weihnachten in der Stube

So sah die Wehrmacht noch 1944 ihre Funktion (Zeichnung aus Wehrmachtsschrift).So sah die Wehrmacht noch 1944 ihre Funktion (Zeichnung aus Wehrmachtsschrift).Froh waren alle Familien, in denen die zum Kriegsdienst eingezogenen Väter und Söhne wieder heil zu Hause waren, wenngleich wegen der ungewissen Zukunft auch bei ihnen keine echte Weihnachtsstimmung aufkommen konnte.

Mehr Tränen als sonst gab es hingegen in den Familien, die noch immer auf ein Lebenszeichen ihrer Lieben vergeblich gewartet hatten.

Etlichen Familien war jedoch eine Nachricht aus einem Gefangenenlager in Russland, Polen, Frankreich und Großbritannien zugegangen und sie quälten sich bei dem Gedanken, wie es den Gefangenen wohl gehen werde, zumal immer wieder Berichte über die katastrophalen Zustände, insbesondere in russischen Lagern, durchsickerten.

Auf vielen Tischen lagen die letzten Feldpostbriefe (Informationen aus Interviews mit Zeitzeugen.) von Gefallenen und Vermissten, daneben ein Foto mit und ohne Uniform, versehen mit einem kleinen Trauerflor. Einem Feldpostbrief lag ein Auszug aus einer Wehrmachtsschrift bei, dessen Zeichnung suggerieren sollte, dass der deutsche Soldat zum Schutz von Frau und Kind Wacht hielt. Auch selbst gemalte Weihnachtskarten mit der Aufschrift: „Kriegsweihnacht in Russland" und einer russischen Kirche waren dabei.

Tannenbäume standen in nur ganz wenigen Stuben. Zum einen, weil es in der Altriper Gemarkung nur ganz wenige Nadelbäume im Staatswald nahe der Grenze zu Waldsee gab und zum anderen, weil es strengstens verboten war, sich im Wald ohne eine Genehmigung zu „bedienen". Außerdem hätten beim Heimtragen der Bäume die Nachbarn neidisch werden können. Tannenzweige gab es hingegen in vielen Häusern, die per Lastkraftwagen von den Holzfällern des Dorfes aus dem Pfälzerwald mitgebracht wurden.

Vielfach gab es als Weihnachtsgabe nur einen rohen oder gebratenen Apfel, in den in eine Zigaretten-Stanniolhülle eine kleine Stearinkerze gesteckt wurde. Die wenigen kleinen Christbäume in den Altriper Privathäusern waren überwiegend mit aufgebügeltem Lametta und, sofern vorhanden, mit Äpfeln und mit Ofenbronze bemalten Walnüssen sowie Strohsternen behangen. Weihnachtsgutsel waren 1945 im Ort eine Rarität und wurden wie ein Schatz gehütet.

Im Vergleich zu den Nachbardörfern spielte nämlich in Altrip die Landwirtschaft keine große Rolle, denn die ehemaligen Fischer verdienten sich seit vielen Jahrzehnten in den Industriebetrieben von Mannheim und Ludwigshafen ihr Geld. „Landprodukte" waren daher für die Altriper schon lange überwiegend Lebensmittel, die sie in Kolonialwarengeschäften kaufen mussten.

Die Gedanken an Weihnachten schweiften bei vielen älteren Menschen zurück in die Kindheit oder in glücklichere Tage. Da war die junge Frau mit ihrem fünfjährigen Söhnchen, das der Vater nie gesehen hatte und von dem noch nicht bekannt war, ob er überhaupt noch am Leben war. Und da war die verwitwete Frau, die ihren einzigen Sohn vermisste, der in Friedenszeiten den landwirtschaftlichen Betrieb „schmiss".

Das erste Weihnachtsfest nach Jahren ohne Fliegeralarm und ohne Kampfhandlungen ließ die Menschen zwar aufatmen, aber es bestand eine unbeschreibliche Zukunftsangst. So ging auch an Weihnachten die Angst um, der Vater oder der Sohn könnte „geholt" werden, weil er in der NS-Zeit eine besondere Parteifunktion hatte. Schon etliche Altriper wurden deshalb interniert, übrigens überwiegend in der amerikanischen Zone. Insgesamt mussten 15 Altriper einsitzen und oftmals wurde ihnen noch nicht einmal eine Begründung gegeben.

In einigen Fällen stellte sich erst nach Jahr und Tag die völlige Unschuld heraus, wie etwa bei Emil Lebherz, der später von 1957 - 1967 der erste hauptamtliche Bürgermeister von Altrip wurde und dem man fälschlicherweise eine Tätigkeit für den SD („SD": Sicherheitsdienst der SS) nachsagte.

Erst nach 15-monatiger Haft wurde er arbeitsunfähig entlassen. Er war damals so geschwächt, dass er kaum mehr laufen konnte. Seine Frau mit den beiden Kindern bekam während der Haftzeit von der Gemeinde Altrip, bei der Lebherz beschäftigt war, keinerlei Bezüge und hielt sich mit dem Ertrag von Näharbeiten über Wasser. Eine Haftentschädigung gab es in jener Zeit auch nicht.

Im Nachhinein stellte sich heraus, dass das Weihnachtsfest 1945 in der auf 3000 Einwohner geschrumpften Gemeinde aber um einiges besser empfunden wurde als 1946, denn die Hungerzeit stand der Bevölkerung erst noch bevor. Die protestantische Pfarrkirche war auch lange Zeit nicht mehr so überfüllt wie am Heiligabend 1945, in der der neue Pfarrverweser Paul Heinrich Werron predigte und die Gemeinde den Choral anstimmte: „Nun danket alle Gott..."

(Quelle: Heimat-Jahrbuch Rhein-Pfalz-Kreis, Band 22, 2005 | Wolfgang Schneider,)
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