Vieh ins Wohnhaus geholt

Am 16. Februar 1929 schien in Altrip die Sonne. Und es war bitterkalt: 22,2 Grad Minus waren tags zuvor gemessen worden. An dem Tag war der Rhein zugefroren. Und die Eisdecke sollte sich noch bis zum 4. März halten. Von den bizarren Eisbergen erzählten die Augenzeugen noch ihren Enkelkindern.

Doch die weiße Pracht hatte auch ihre Kehrseite. An diesem Tag sickerte die Nachricht durch, dass in der Römerstraße einem armen Arbeiter wieder eine Ziege, nämlich die „Liesel“, erfroren war. Schon Tage zuvor hatte ihm die Kälte seine Ziege "Berta" genommen.

Nun war der Stall leer. Und der Verlust war schwer: Eine Ziege war zu jener Zeit „die Kuh des kleinen Mannes“. Insbesondere nachts hallten schaurige Schreie der gequälten Kreaturen durch Altrip, so etwa aus den Stallungen eines Landwirts in der Maxstraße. Etliche Dorfbewohner holten daraufhin ihre zumeist einzige Ziege in den Hausflur und die Hasen gar in die Küche.

Doch auch die Menschen litten unter der Kälte. Im Ort wurden die Kohlen knapp, zumal im Herbst 1928 kaum eine Familie genügend Geld für einen Wintervorrat gehabt hatte. Jeder Tag begann mit einem sorgenvollen Blick auf das Thermometer und die schrumpfenden Vorräte in Keller und Schuppen.

Zu Fuß über den Rhein: Die Altriper nutzten die seltene Verbindung für den Kohlenklau auf Mannheimer Seite. Zu Fuß über den Rhein: Die Altriper nutzten die seltene Verbindung für den Kohlenklau auf Mannheimer Seite. Die „Kohlenklauer“ marschierten über den zugefrorenen Rhein in den Rheinauer Hafen und „bedienten“ sich dort an den Halden. Wenn sie von Wächtern angehalten wurden, behaupteten sie meistens, dass sie nach der im Hafen liegenden Fähre schauen wollten. Doch ein allzu prall gefüllter „Kartoffelsack“ verriet sie dann doch. Aber was sollten die Altriper auch machen? Die Altriper Kohlenhändler hatten keine Kohle mehr. Die Lieferungen kamen nicht in den Ort, weil die Flüsse zugefroren waren und die Reichsbahn nicht genügend Kapazität hatte.

Viele Dorfbewohner legten sich mit einer Bettflasche oder einem auf dem Kohlenherd oder im Backofen erhitzten Backstein ins Bett. Kinder schliefen zu dritt oder viert zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen. Es war ein Winter, der allen zeitlebens in Erinnerung bleiben sollte.

Immerhin war der Fluss auf 350 Kilometer Länge von einer dicken Eisdecke bedeckt. 1963 führte der Rhein bei Ludwigshafen dann zum letzten Mal Treibeis, im Bereich der Loreley war er auf 15 Kilometer Länge fest zugefroren. Doch diese Zeiten sind wohl für immer vorbei, denn dafür wird der Rhein durch Abwasser zu sehr aufgewärmt.

(Wolfgang Schneider | 2012)
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