Eigentlich war der Altriper Gemeindeangestellte Karl Werner H. zeitlebens ein armer Kerl: behindert, Junggeselle ohne Frauengeschichten, unter Kuratel seiner Eltern und zudem nicht gerade mit männlicher Schönheit gesegnet. Und so war es schon sehr günstig für ihn, dass er 1936 mit Hilfe der NSDAP im Rathaus einen Arbeitsplatz erhielt, der zu Fuß erreichbar war.
Gerne wirkte er dort auch für die Partei und deren Untergliederungen. So führte er etwa die Kartei der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV)“, die ebenfalls im Gemeindehaus ihr Domizil hatte. Nach Kriegsbeginn war er im Ernährungsamt mit einem Wust von Lebensmittel und Zuteilungskarten, von Sprit bis zu Schuhen, Kochtöpfen und Besenstielen betraut. Es war nicht gerade ein dankbarer Posten, doch Karl Werner H. versah ihn mit Dankbarkeit und einer regelrechten Akribie. Er „verkaufte“ alles im Sinne der Partei.
Nicht ohne Wirkung konnte er darauf verweisen, dass man zwar für alles Bezugsscheine und „Marken“ brauche, aber im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg, wo es auch ein Ernährungsamt gab, musste niemand hungern. Und 1941 wurden die Rentner gar in die gesetzliche Krankenversicherung einbezogen und waren nicht mehr auf mildtätige Zuwendungen angewiesen.
Über den Volksempfänger hörte der kleine Angestellte mit dem schütteren roten Haar regelmäßig, was das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) über die verheerende militärische Lage in den ersten Wochen des Jahres 1945 bekannt gab. Selbst als die Wehrmacht am 22. März 1945 die Fähre an unbekannter Stelle versenkte und damit den Altripern der Fluchtweg ins „Reichsinnere“ verwehrt war, ging er ruhig ins Rathaus und wartete wohl auf ein Wunder.
So saß er auch am 24. März vor 60 Jahren, an einem sonnigen Samstagmorgen, im Amt. Obwohl tags zuvor die „Amis“ schon in Speyer und Ludwigshafen eintrafen, kam deshalb im Ort keine Panik auf. Allerdings hatten sechs mutige Frauen auch den größten Teil der Panzersperren durchgesägt, um weitere Zerstörungen zu verhindern. Nach der manövermäßigen Einnahme von Altrip verteilten die GI‘s Kaugummi und Schokolade an die Kinder und besetzten das Rathaus.
Dort trafen sie, bis auf Karl Werner H., keine Menschenseele an. Der Angestellte konnte zwar nicht Englisch, aber sie stellten schnell fest, dass er „nicht gedient“ hatte und machten ihn zum Gewährsmann. Doch zunächst musste er mit der Ortsschelle ein allgemeines Ausgehverbot bekanntgeben. Das Rathaus und die Wirtschaft „Rheintal“ wurden zum militärischen Sperrgebiet erklärt. Zu Beginn der Karwoche erschien die erste Bekanntmachung des Karl Karl Werner H.: Alle in Altrip zurück gebliebenen Wehrmachtsangehörige, die nun Zivilkleidung trugen, mussten sich bei ihm zu Hause binnen zweier Stunden melden. „Soldaten, die dieser Meldepflicht nicht nachkommen, werden erschossen!“
Schon am nächsten Tag verkündete er: „Niemand darf den Ort verlassen.“ Alle Personen mit Anliegen an die Alliierten verwies er an seine Adresse in der Römerstraße 28. Seine Wohnung war das „Ersatz-Rathaus“. Es gab zig Aushänge. Abzugeben waren Radios, Fotoapparate, Brieftauben und natürlich Waffen und Munition. Bei Zuwiderhandlungen drohten Sanktionen bis hin zur Todesstrafe. Am Karsamstag durfte er eine Ausgehzeit von 7 bis 17.30 Uhr, allerdings nur innerhalb des Orts, bekanntgegeben. Dann kam der große Fall. Zum 1. Mai 1945 setzte die Besatzungsbehörde Fridolin Braun als kommissarischen Bürgermeister ein, wenige Tage später wurde auch ein Beirat aus Sozialdemokraten, Kommunisten und Unabhängigen gebildet.
Nun wurde Karl Werner H. wegen seiner NSDAP-Aktivität verhaftet, wohl aber auch im Zorn darüber, dass er sich als übereifriger Erfüllungsgehilfe der Sieger betätigte. Bis Juni 1946 saß er im Internierungslager in Kornwestheim, wurde danach zunächst bei der Gemeinde weiter beschäftigt, doch 1951 aufgrund einer Spruchkammerentscheidung entlassen.
1954 wurde er wieder eingestellt und kümmerte sich fortan um Renten- und Grundstücksangelegenheiten. Und bei der Wiedereinführung der Wehrpflicht war ausgerechnet er mit der Erfassung der Wehrpflichtigen betraut wurde und saß auch in einer Musterungskommission – doch dafür konnte er selbst ja nichts.